|
OLG Stuttgart Beschluß vom 31.7.2015, 17 UF 127/15
Zulässigkeit einer ohne Beschwerdebegründung eingelegten
Beschwerde in einem HKÜ-Verfahren.
Leitsätze
Eine Beschwerde in einem Verfahren über die Rückführung eines Kindes
nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte
internationaler Kindesentführung (HKÜ) ist nicht deshalb unzulässig, weil
sie nicht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung der amtsgerichtlichen
Entscheidung begründet wurde.
Zu den Voraussetzungen der
Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ und Art. 13 Abs. 2 HKÜ.
Tenor
1. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Stuttgart vom 12.05.2015, Aktenzeichen 28 F 783/15, wird
zurückgewiesen.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu
tragen.
3. Der Verfahrenswert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.
Gründe
|
|
|
Der Antragsteller möchte die Rückführung des gemeinsamen
Kindes nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen
Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25.10.1980 (HKÜ)
nach Polen erreichen. | |
|
Antragsteller und Antragsgegnerin sind die verheirateten
Eltern des Kindes N., geb. am ... N. ist in Polen aufgewachsen
und dort zur Schule gegangen. Während des Sommers 2014
arbeitete die Antragsgegnerin wie schon häufig zuvor als
Pflegekraft in Deutschland. Der Antragsteller stimmte zu, dass
N. sich während der Sommerferien in Polen für zwei Monate bei
der Antragsgegnerin in Deutschland aufhält. Nach der Rückkehr
der Antragsgegnerin mit N. Ende August 2014 nach Polen zum
Antragsteller trennten sich die Eltern. Ohne den Antragsteller
vorab darüber zu informieren, zog die Antragsgegnerin mit N.
am ...2014 nach G. zu ihrem neuen Lebensgefährten, als sich
der Antragsteller wegen eines auswärtigen Termins über das
Wochenende nicht daheim aufhielt. N. wohnt seitdem dort und
besucht die örtliche Schule. Zwischenzeitlich ist in Polen ein
Scheidungs- und eine Sorgerechtsverfahren
anhängig. | |
|
Das Bundesamt der Justiz leitete mit Antrag vom 10.04.2015
das vorliegende Rückführungsverfahren ein. Das Amtsgericht
bestellte N. einen
Verfahrensbeistand. | |
|
Nach Anhörung von N. und Durchführung einer mündlichen
Verhandlung verpflichtete das Amtsgericht mit Beschluss vom
12.05.2015 die Antragsgegnerin, N. nach Polen zurückzuführen.
Die Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 HKÜ lägen vor. N. habe
ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in Polen
gehabt. Die Eltern seien gemeinsam sorgeberechtigt, weshalb
das Verbringen nach Deutschland widerrechtlich gewesen sei.
Der Antragsteller habe der Verbringung nach Deutschland nicht
zugestimmt. Weder sei durch die Rückführung eine
schwerwiegende Gefahr für das körperliche und seelische Wohl
von N. zu befürchten, noch widersetze sich das Kind einer
Rückführung. | |
|
Gegen den am 20.05.2015 zugestellten Beschluss hat die
Antragsgegnerin am 30.05.2015 Beschwerde eingelegt. Mit
Verfügung vom 10.06.2015 wurde der Antragsgegnerin aufgegeben,
die Beschwerde zu begründen. In der nochmals verlängerten
Frist bringt die Antragsgegnerin vor, die Belange von N. seien
nicht ausreichend berücksichtigt worden. Eine erneute Anhörung
von N. würde ergeben, dass sie sich nachdrücklich weigern
würde, nach Polen zurückzukehren, da sie zum Antragsteller nur
eine rudimentäre Bindung habe. Der Antragsteller habe sich
Anfang September 2014 gegenüber N. gleichgültig verhalten, was
sich in der Folge, insbesondere durch die Ablehnung von
Vergleichsvorschlägen beim Amtsgericht, fortgesetzt habe. Auch
bemühe er sich nicht ansatzweise um Kontakt mit N. Zudem sei
N. in sozialen Netzwerken von ihren ehemaligen
Klassenkameraden in Polen angefeindet
worden. | |
|
Der Antragsteller hält die Beschwerde mangels
rechtzeitiger Beschwerdebegründung bereits für unzulässig.
Gewichtige Gründe, die gegen eine Rückführung sprechen würden,
habe die Antragsgegnerin nicht vorgebracht. Es seien nur -
ohnehin unzutreffende - Aspekte vorgetragen, die für ein
Sorgerechtsverfahren relevant seien, nicht jedoch für ein
Rückführungsverfahren. | |
|
Der Verfahrensbeistand im Beschwerdeverfahren hat über
Gespräche mit N. und der Antragsgegnerin
berichtet. |
|
|
Die gemäß § 40 Abs. 2 S. 1 IntFamRVG, § 58 Abs. 1 FamFG
statthafte Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet,
weshalb sie zurückzuweisen ist. | |
|
1. Die Beschwerde ist innerhalb der Frist von zwei Wochen
gemäß § 40 Abs. 2 S. 2 IntFamRVG eingelegt worden. Der
Zulässigkeit nicht entgegen steht, dass die Beschwerde nicht
gleichfalls innerhalb dieser Frist begründet wurde, was die
Formulierung von § 40 Abs. 2 S. 2 IntFamRVG nahelegt, wonach
die Beschwerde auch innerhalb von zwei Wochen zu begründen
ist. Eine Begründung ist jedoch keine
Zulässigkeitsvoraussetzung einer Beschwerde im HKÜ-Verfahren.
Das ergibt sich aus der Verweisungsvorschrift des § 40 Abs. 2
S. 1 IntFamRVG. Denn § 40 Abs. 2 S. 1 IntFamRVG nimmt von der
Verweisung auf die §§ 58 ff. FamFG den § 65 Abs. 2 FamFG aus,
der die Möglichkeit einer Fristsetzung für die
Beschwerdebegründung vorsieht. § 65 Abs. 1 FamFG greift
hingegen ein, wonach die Beschwerde nur begründet werden soll.
Eine Begründung ist demnach nicht zwingend (die Kommentierung
nimmt sich des Problems nicht ausdrücklich an und ist insoweit
unklar, z.B. Hausmann, Internationales und Europäisches
Scheidungsrecht, § 40 IntFamRVG, N 307; Wagner,
Internationales Familienverfahrensgesetz, § 40, Rn. 2;
MünchKomm-FamFG/Gottwald, 2. Aufl., § 40 IntFamRVG, Rn.
2). | |
|
§ 40 Abs. 2 S. 2 IntFamRVG bewirkt folglich, dass der
Beschwerdeführer, falls er die Beschwerde begründen möchte,
dies nur innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des
Beschlusses erledigen kann, ohne dass das Beschwerdegericht
die Frist verlängern darf (zu letzterem Hausmann,
Internationales und Europäisches Scheidungsrecht, § 40
IntFamRVG, N 307). Wird die Beschwerde nicht innerhalb von
zwei Wochen begründet, kann das Beschwerdegericht unmittelbar
entscheiden, ohne das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers
zu verletzen. | |
|
Die von der Antragsgegnerin versäumte Begründungsfrist
ändert nichts daran, dass der Senat seiner Entscheidung
sämtlichen bis zu diesem Zeitpunkt eingegangenen Vortrag der
Beteiligten zugrunde zu legen hat. Eine Präklusionsvorschrift
existiert nicht. | |
|
2. Die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 HKÜ liegen vor.
Die Antragsgegnerin hat das Kind widerrechtlich nach
Deutschland verbracht, indem sie ohne Zustimmung des
mitsorgeberechtigten Antragstellers am ...2014 mit dem Kind
aus Polen ausgereist ist. Dies wird in der Beschwerde auch
nicht mehr beanstandet, weshalb insoweit auf die Ausführungen
des Amtsgerichts im angefochtenen Beschluss verwiesen
wird. | |
|
Die Antragsgegnerin meint lediglich, der Rückführung
stünden Art. 13 Abs. 1 lit. b) und Abs. 2 HKÜ entgegen. Deren
Voraussetzungen liegen jedoch nicht
vor. | |
|
a) Nach Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ ist die Rückführung bei
einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen und seelischen
Schadens für das Kind abzulehnen. | |
|
Die Vorschrift ist eng auszulegen, um dem Sinn und Zweck
des HKÜ Geltung zu verleihen, eine im Ursprungsstaat
getroffene Sorgeregelung zügig umzusetzen bzw. eine solche zu
erreichen sowie der Präventivwirkung des HKÜ Rechnung zu
tragen. Es genügt deshalb nicht die mit jeder Rückführung des
Kindes verbundene psychische Belastung, die aus der Änderung
der Bezugsperson, des Wechsels der Wohnung, der Schule oder
aus Kontaktverlusten resultiert. Vielmehr müsste darüber
hinaus eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung des
Kindeswohls zu erwarten sein (Hausmann, Internationales und
Europäisches Scheidungsrecht, Art. 13 HKÜ, N 184 m.w.N.).
Darunter fallen unter anderem die Gefahr von
Kindesmisshandlungen oder die Gefahr für Leib oder Leben, z.B.
in einem Kriegsgebiet. Die von der Antragsgegnerin
vorgebrachten Gründe, die einer Rückführung nach Art. 13 Abs.
1 lit. b HKÜ entgegenstehen sollen, sind effektiv zu prüfen
und das Ergebnis der Prüfung ist darzulegen. Wenn aufgrund
aussagekräftiger psychologischer Gutachten eine schwerwiegende
Gefahr für das Kind hinreichend konkretisiert wird, ist dies
weiter aufzuklären. Ansonsten wäre Art. 8 EMRK verletzt (EGMR,
Urteil vom 26. November 2013, Az. 27853/09, zitiert nach
juris). | |
|
Die Antragsgegnerin bringt ausschließlich solche Gründe
vor, die im Rahmen des Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ gerade nicht
zu berücksichtigen sind, wie den Wechsel der Bezugsperson, der
Wohnung und der Schule oder Kontaktverluste zu mittlerweile in
Deutschland gefundenen Freundinnen. Darüber hinaus geht allein
der Umstand, dass N. über soziale Medien von ihren ehemaligen
Klassenkameraden aus Polen gemobbt worden sein soll. Es ist
jedoch nicht zwingend, dass N. in Polen ihre ehemalige Schule
wieder besuchen müsste, so dass der Aspekt bereits deswegen
nicht eingreift. | |
|
b) Die Rückführung scheitert schließlich nicht am
entgegenstehenden Willen von N. (Art. 13 Abs. 2 HKÜ). Dieser
ist zu beachten, wenn das Kind sich der Rückgabe widersetzt
und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, die die
Beachtung seiner Meinung angebracht erscheinen lassen. Ob dies
bei einem 10-jährigen Kind grundsätzlich bereits der Fall sein
kann, wird unterschiedlich beurteilt (vgl. Hausmann,
Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, Art. 13
HKÜ, N 202 m.w.N.). Die erforderliche Reife von N. kann
vorliegend dahingestellt bleiben, nachdem sie sich der
Rückführung nicht ernsthaft und nachdrücklich
widersetzt. | |
|
N. hat sowohl in der Anhörung vor dem Amtsgericht als auch
zuletzt im Beschwerdeverfahren gegenüber ihrem
Verfahrensbeistand geäußert (siehe Bericht vom 27.07.2015),
ihr gefalle es in Deutschland und bei ihrer Mutter besser als
bei ihrem Vater. Die Gründe hierfür hat sie nachvollziehbar
dargelegt. Sie stimmen nur teilweise mit den Behauptungen den
Antragsgegnerin in der Beschwerdebegründung überein. N.
schwebt vor, in Deutschland zu bleiben und den Vater und die
sonstige Verwandtschaft in Polen während der Schulferien zu
besuchen. Auch wenn N. geäußert hat, sie werde nicht in einen
Bus nach Polen steigen und habe Angst vor der Rückkehr nach
Polen, ist dies kein Widersetzen im Sinne von Art. 13 Abs. 2
HKÜ. Ängste und Befürchtungen sind bei einer solchen
Veränderung vollkommen üblich und gehen über die übliche
Belastung für ein zwischen den Elternteilen und verschiedenen
Ländern hin- und hergerissenes Kind nicht hinaus. Dass N.
alleine in einen Bus nach Polen steigen müsste, wie sie sich
eine Rückführung anscheinend vorstellt, trifft nicht zu.
Vielmehr wird sie bei einer Rückführung jedenfalls vom
Jugendamt unterstützt und, so ist zu hoffen, auch von der
Antragsgegnerin, deren Verpflichtung es ist, N. sicher und
behütet nach Polen zu bringen. Selbst wenn die Aussage von N.
insoweit nicht wörtlich zu verstehen wäre, läge darin kein
Widersetzen. Sie drückt damit schlicht ihre Befürchtungen vor
einer selbstverständlich für sie belastenden Rückführung aus.
Es finden sich keine Äußerungen dahingehend, was sie
tatsächlich im Falle einer Rückführung zu tun gedenkt, um
diese zu verhindern. Eine für Art. 13 Abs. 2 HKÜ ausreichende
Ernstlichkeit ist darin nicht zu erkennen. Vielmehr schildert
N. in ihren Angaben vor dem Amtsgericht und dem
Verfahrensbeistand ausführlich die durchaus auch mit positiven
Seiten behaftete Situation in Polen, die lediglich durch eine
Abwägung schlechter als diejenige in Deutschland beurteilt
wird. Solche Aspekte sind jedoch nicht im
Rückführungsverfahren, sondern im Sorgerechtsverfahren zu
beleuchten. | |
|
3. Eine mündliche Verhandlung oder nochmalige Anhörung des
Kindes dienen nicht der weiteren Sachaufklärung, weshalb auf
deren Durchführung verzichtet wird (§ 40 Abs. 2 S. 1
IntFamRVG, § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG). Die Kostenentscheidung
beruht auf § 40 Abs. 2 S. 1 IntFamRVG, §§ 68 Abs. 3 Satz 1, 84
FamFG. Der Verfahrenswert richtet sich nach § 45 Abs. 1, 3
FamGKG. | |
|